Was ich am meisten vermisse in Abwesenheit

Was ich am meisten vermisse in Abwesenheit der Normalität, wie wir sie bisher angenommen haben? Diese Frage ist mittlerweile ein paar Wochen alt und sollte der Aufhänger für meinen nächsten, diesen, Blogeintrag sein. Im Laufe der fast vier Wochen ohne Eintrag und mit ganz viel Ausnahmezustand und Abwesenheit von Bekanntem und Gewohntem formten sich jedoch andere Fragen. Was vermisse ich alles nicht? Worauf alles kann ich verzichten? Ohne was kann ich vielleicht sogar besser, glücklicher leben? Was möchte ich gar nicht wieder zurück in mein Leben nach Corona? Wie fühle ich heute?

Je weiter die gewohnte Realität mit dem gewohnten Gehetze inmitten von mir wegrückt, um so gefährlicher wird der Wiedereinstieg – denke ich mir manchmal in meinen späten Feierabendstunden. Um so mehr nehme ich wahr, was mir im Alltag wirklich fehlt, was mich bewegt, was mich traurig und fröhlich, einsam und erfüllt fühlen, ermattet und erstrahlen lässt. All das konnte ich auch im gewohnten Alltag mit Arbeit, Kindern, Haushalt, Freizeit, Familie und Freunden wahrnehmen oder erahnen. Jetzt aber hat die Wahrnehmung eine Tiefe und Klarheit bekommen, die sich keine Minute mehr leugnen lässt. Der Ruf nach Freiheit und Lebendigkeit, das Ubuntu vergangener Texte, hat neues Gewicht bekommen. Der Wunsch nach Wahrhaftigkeit, Selbsterleben und Verbundenheit mit den wichtigsten Menschen in meinem Leben hat sich aufgeblasen, die Membran ist angespannt, ein unbekanntes Gas hebt das Gewicht in den Luftraum, der atmen lässt. Ich, der Protagonist meines Lebens, betrachte, beobachtet vom Regisseur, der meinem Ich entspringt und mal wieder in meine Richtung flüstert: Es macht nichts, dass du müde bist. Ich sehe überall Atem. Atem, der so vielen in der Krise ausbleibt, im eigentlichen und im übertragenen Sinne. Ich sehe sie, all die eingetunnelten Menschen, die gerade das Licht am Ende nicht greifen können, die sich verlaufen, verirren, die verzagen. Aber ich sehe auch die wachsenden, die in die Luft hinaufsteigenden Geister, die sich selbst beflügeln, weil sie sich selbst berührt haben in den vergangenen Wochen der Ausnahme. Weil sie an das Karma des Universums glauben und Erschöpfung nicht dem Zweifel übergeben. Weil sie kämpfen und sie selbst bleiben und werden in dieser globalen Krise. Weil ihnen jetzt nur die nah sind, die sich um einen scheren. Und weil sie nur denen nah sein wollen, die sie auf ihrer Welle treiben sehen wollen.

Ich hoffe und wünsche, dass ich das Verlangen nach Verausgabung im Wesentlichen nicht verliere auf dem Weg in den Wiedereinstieg in die verformte Normalität. Und ich hoffe, dass dieser Wunsch und ein ähnlicher Drang auch viele andere in gänzlich anderen Lebenswelten ergriffen und infiziert hat. Möge die Welt ein klein wenig besser werden. Mögen wir aus dieser Krise zerzaust und zerkratzt nach Wahrhaftigkeit greifen. Das Leben ist kurz. Hier zumindest.

Auch wenn das Gedicht Corona von Paul Celan einer anderen Zeit entspringt und der Lyriker von weit mehr und größeren Krisen getrieben war, so reihen sich seine Zeilen doch in unsere heutige Realität unter und sind stimmig mit dem leisen Lebensruf. In Gedenken an seinen kürzlich jährenden Todestag:

Corona

Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.

Im Spiegel ist Sonntag,
im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.

Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.

Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:

es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

Es ist Zeit.

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