In Wirklichkeit bin ich ein langweiliger, träger, undisziplinierter Mensch, der sein Talent und seine Bestimmung seit bereits 44 Jahren nicht imstande war und ist zu finden. Es war dafür nicht die Zeit, nicht der Ort, nicht die Gesellschaft und nicht das dafür Gebrauchte gegeben. Noch nie. Und es gibt verdammt wenige Anzeichen und noch weniger Hoffnung, dass sich die Nadel im Heuhaufen, das Korn des blinden Huhns oder der Wald vor lauter Bäumen jemals erblicken und erfassen lässt und lassen wird. Ich bin ein hoffnungsloser Fall, mit all meinen Unzulänglichkeiten, Gebrechen, Fehlern und all meinem Versagen. Und ich werde es immer bleiben.
Lässt mich etwas schreiben, ohne dass ich mich damit so gänzlich einverstanden fühle. Vielleicht tippe ich bloß gerne auf den Tasten herum, vielleicht sehe ich bloß gerne meine Finger in graziler Bewegung am Abend auf der Tastatur tänzeln, so ganz in sich selbst verliebt vor lauter Miniideen des Schreibschubs?
Es erstaunt mich immer wieder, wieviel Ereignis und Erleben in nur wenigen Minuten zwischen zwei Menschen, zuweilen auch zwischen zwei fast fremden Menschen passieren kann. Manchmal genügen auch Sekunden, um Sichten, altes Verstehen, gängige Denkmuster und vor allem Fühlen zu erneuern. Dieses Staunen lässt Gutes hoffen.
Ich unterhielt mich im vergangenen Jahr mit einer Person, die zu damaligem Zeitpunkt erst vor einem knappen Jahr aus Griechenland nach Berlin gezogen ist. Der Mensch, Ende 40, ledig, lebt nun in einer Wohngemeinschaft und hält sich tapfer mit Gelegenheitsjobs finanziell über Wasser. Er ist kultiviert, gebildet, belesen und in der ersten Erscheinung und Wahrnehmung vom stillen, freundlichen und bescheidenen Gemüt. Er hat Themen in seinem Leben, die ihn schwer gezeichnet, gebrochen und wieder sich hinaufrichten ließen. Er hat geliebt, gelitten und nach der eigenen Wahrheit und dem eigenen Frieden in diesem Moment gesucht.
Ich verbrachte ein paar angenehmem Abendstunden mit ihm, durch die kalte Stadt spazierend, sich gegenseitig lauschend, im Café an warmen Getränken nippend, sich von den eigenen Welten erzählend. Wir mischten dabei die Sprachen, da uns die Muttersprache des anderen nicht unsere eigene ist und fanden in anderen die richtigen Worte und Annäherung. Es entstanden Bilder vom Leben des Gegenübers, es wurden Puzzelteile geliefert, Emotionen beigemischt und Vorstellungen freigegeben. Ich bemühte mich zu verstehen und meinen starren Stehpunkt zu bewegen.
Daneben merkte ich aber auch im Laufe der Stunden, wie mich ein etwas unangenehm anmutendes Gefühl beschlich, kaum merkbar, nicht definierbar im Moment des Anflugs und doch aus dem scheinbaren Nichts und Unsichtbarem heraufwachsend zu etwas real Größerem. Im Café ertappte ich mich schließlich dabei, wie ich die räumliche Entfernung zu der Person leicht verkleinerte in der Hoffnung und aus dem Bedürfnis heraus, so das fremd anmutende Gefühl besser erfassen und ebenfalls verkleinern zu können. Ich wollte das Unklare darin nicht fühlen und tat es doch. Was irritiert mich nur so unwesentlich? Ist es die fehlende Präzision im Verstehen der nur zureichend gut erlernten Sprache, seiner und meiner, die das Bild leicht benebelt erscheinen lässt? Und während ich so zuhöre und parallel im Denken bemüht bin, ertappt mich mein Gegenüber in meiner Unsicherheit, die sich im Äußern seiner Unsicherheit anfängt zu spiegeln. Ich weiß nicht mehr, wie der befreiende Wortlaut war, aber es war ein Versuch des Interpretierens meiner inneren Gedanken zu seiner Person, der sich nur in einem Wort zusammenfassen lässt – Mitleid. Er erblickte im uns umgebenden gleichförmigen Licht des Cafés mein heraufkriechendes Mitleid noch bevor ich mich selbst dabei ertappen konnte oder aber noch bevor ich mir eingestehen konnte, dass ich angefangen habe ihn innerlich zu bemitleiden für sein aus meiner Welterfahrung und meinem Weltverstehen heraus schweres Leben. Er sprach es aus, ich erschrak, begriff, bejahte, verneinte und fing sofort an mich zu erklären. Ich starre nur so ungefiltert und distanzlos auf seine Erzählung, weil ich versuche, mich in die gänzlich andere als meine Welt zu versetzen und sein Empfinden darin zu ergreifen – erkläre ich in bemüht leichter Sprache. Und während ich mich reflexartig rechtfertige, ohne zu wollen oder zu müssen, merke ich, wie ich mich im Erklären an etwas annähere, was so sehr viel angenehmer, wohlwollender, freundlicher und liebenswürdiger ist als das Gefühl des Mitleidens. Ich fische Gefühl aus der Frucht des Mitleids, ich fische Mitgefühl. Samen des Mitfühlens, die nicht starr, kühl und formfest sind wie das Mitleiden. Ich fische aus den Tiefen des Versuchs der Kommunikation zweier Welten Gefühle der Gemeinsamkeiten, der Menschlichkeiten, des Miteinanders. Es legt sich Ruhe im Herzen. Es wird still um alle Äußerlichkeiten. Der Anflug von Scham schweigt.
Fast schon wäre ich nicht vom Ross gefallen und hätte die gemeinsame Ebene verfehlt, die die mir fast unbekannte Person schon hatte, bevor sie mir begegnet ist. Da allerdings lauschte ich noch selbtsverliebt auf mein Tastentippen und hielt mich für einen gefallenen Schriftsteller der untersten Mittelschicht. Im Café konnten wir uns selbst vergessen und darin Mensch sein.
Fast schon wäre ich nicht vom Ross gefallen und hätte mein Menschsein verfehlt.
Ich staune also werde ich.

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