Vergänglichkeit im Fokus des Lebens

Nichts schmerzt so sehr, wie der Verlust von Zeit. Und nichts schmerzt so sehr, wie Zeit, die nicht vergehen will. Wie Sandkörner in einer Sanduhr rinnt das Leben hindurch und nichts erschüttert die gnadenlose Konstante. Wie wir uns manchmal um den Wandel winden und winseln und uns dann doch kleinlaut ergeben und wieder erheben und über uns hinauswachsen. Der Mensch kann groß und Großartiges erschaffen, in visionäre Arbeit versinken und dem lauernden Ende seine Langschatten zuwenden. Leuchten, und leuchten.

Wir beugen uns vor den wenigen Dimensionen, die uns hier gegeben sind, die wir hier erhaschen können. Wir hoffen mehr Gutes als Böses im Laufe eines langen Tages zu erblicken und schnappen oft genug nach Atmen, wenn uns Schlechtes vor unsere Sichtachse geworfen wird. Wie hier leben, wo doch nebenan Menschen sterben in von Menschenhand gelegten Qualen? Wie hier Liebe säen, wo Hass die Nachbarskinder mit Albträumen vergiftet? Und die Vergänglichkeit verwehrt uns die Antwort auf all unsere Fragen nach dem Sinn jeden Lebens. Sie löscht aus, bevor wir begreifen, bevor wir im Verständnis füreinander aufgegangen sind.

Mit dem Älterwerden wächst das Verlangen, die Zeit festzuhalten, schöne Momente zu konservieren. Ich schaue mir Fotos meiner Kinder der letzten Jahre an und spüre die Freude über die Erinnerung und das Erlebte in einer leichten Verlustpanik feststecken. Sie drückt mit wenig Nachsicht auf die Lungenflügel. Sie scheint im Bewusstsein um das Lebensende wie in einem stickigen Indoorspielplatz im Freischaukeln nach Frischluft zu schnappen. Jetzt nur nicht durchdrehen, es ist noch kein Ende in Sicht, es ist uns noch Zeit gegeben! Jetzt nur nicht durchdrehen! Irgendwo in einer der vielen seriös anmutenden Statistiken las ich doch, dass Frauen im Durchschnitt Anfang ihrer 50er Jahre die glücklichste Zeit ihres Lebens erwartet. Also sind mir nicht nur Jahre sondern auch Jahre im noch mehr Glück gegeben.

Ich will daran glauben, dass jedes Leben ein wohlwollendes Gut für den Menschen bereithält, dass jeder noch so sinnlos erscheinende Tod nur die Pforte zu einem unbekannten Neuen ist. Der Gedanke streut Trostpflaster auf die Dellen im Dickicht des Indoorspielplatzes.

Was passiert mit dem Feuer im Herzen, wenn es niemandem gilt?

Brennt es nach dem Tod weiter und wirft aus Trotz mit Funken um sich?

Und wenn ja, wohin gelangt es? Und wohin gelangen die Gedanken, die keiner niederschreibt?

Um das hier zu verstehen, braucht es Hirne und Herzen, braucht es das Ringen um Verständnis, braucht es Fühlen. Um das hier zu verstehen, braucht es Arme und Hände, braucht es Stärke und Schmerzen. Und dann, dann kommt die sich freischaukelnde Freude zum Stillstand mitten an einem heißen Sommersonnentag und findet Atem. In diesem Sekundenglück kann sie sein auch im Wissen um all die dunklen Todesbilder.

Irgendwo zwischen gestern und dem vorletzten Luftholen ist sie alt geworden, meine Haut. Sie pellt meine Seele frei.
Irgendwo zwischen dem vorletzten Luftholen und jetzt hab ich einen Gedanken verloren gehen sehen. Und ich dachte noch – Es ist unser Denken, das unser Leben so heimatlos macht.
Und irgendwo zwischen Schlaf und Wach warte ich auf das Abwinden des Schicksals.
Und zum Zeitvertreib und aus tiefster Notwendigkeit meines Seins wird gemeißelt, bis auch der letzte Buchstabe freigekratzt ist. Und weil das Abwinden auf sich warten lässt, fegen die Winde den Meißelstaub vom Leseweg frei. Mein Leicht-Meißelhammer passt wie angegossen zu der Hautpellung der Handoberflächen. Es muss nicht schön werden, aber wahr. Mehr will ich nicht.

Und heute: Wer leistet meinem Realismus Gesellschaft, wenn ich ihn für den Sommertag stehen lasse in der Kälte?

Egal, ich gehe Licht einfangen und beuge meinen Körper wie der eigensinnige Baum dem Leben zu.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Matthias

    So ist das Leben, unser Leben. Wir führen fort, was andere begannen und ebnen Wege, legen Wiesen an und zeigen die Schönheiten im Sekundenglück.

    Dies ist die Beständigkeit und das Farbenfrohe in dieser stehenden Zeit. Eine unsichtbare Kraft wird die Sanduhr kippen und schon scheint es weniger gnadenlos und gibt neue Perspektiven frei.

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