Reden wir über den Tod

Eigentlich, denke ich, sollte ich öfters über Kinder schreiben. Immerhin machen sie den größten Teil meines Lebens aus. Nur, es zu leben, das Kind-Mutter-Ding, ist das eine, darüber zu reden oder zu schreiben, ein ganz anderes. Ich gehörte schon immer zu den Mamas, die sich auf Spielplätzen liebend gerne über Gott und die Welt und alles weitere außerhalb unterhalten. Über all das. Und am wenigsten gerne über den Kinder-Kram. Der haftete währenddessen mit Urvertrauen an mir wie Körperinventar.

Also schweif(t)e ich meist mit großen Sprüngen aus der Windel-, Kita-, Schulthematik hinaus und gerne auch zeitlich noch weiter in die Lebensalter-Ferne, mit einem Gefühl weit hinter dem Lebenszenit. Manchmal möchte ich dort ankommen, wo ich alt werden kann. Und manchmal möchte ich dort ankommen, wo ein Ende in eine andere Welt führt.

Die Zeit zieht vorbei. Ein jeder von uns wird sich verabschieden, mit einem ewig langen Lebewohl oder Sekundenbruchteil eines Ades, meist ungewollt, ungeplant und nicht ausreichend vorbereitet. Mehr als unser eigener Tod trifft auch einen jeden der Abschied eines geliebten Menschen, ein Abschied zu Lebzeiten vom sichtbaren Leben.

Wir laufen mit einem Loch im Herzen in diese Welt hinein und lauschen dem Summen der Unendlichkeit und Ewigkeit, während wir zu Lebzeiten unzähligem Kleinkram hinterhereilen und das für den Lauf der Dinge halten. Wir sammeln und horten, legen an und stopfen imaginäre Konten mit vermeintlicher Sicherheit für eine ungewisse Zukunft, die niemand kennt.

Und wenn der Sommer abbricht, mitten im Geschehen, erinnern wir uns an das Gewollt-Haben, das in den Startlöchern des Sommerbeginns steckengeblieben ist. Dazwischen gab es zum Glück das ungeplante Leben.

Ich hatte meine erleuchteten Momente von längerer Dauer und Zufriedenheit und hab eine Menge Kopfbilder gesammelt, alleine und in freundschaftlicher Gesellschaft. Ich habe mich wieder in Balance geschaukelt zwischen nichts erwarten und alles hoffen. Vernunft und Sehnsuchtsweiten erörtern derweil noch den freien Fall.

Wir stürzen mit einem Loch im Herzen in die Welt hinein. Dann rasen wir durch den Moment des Anbruchs. Erwachen im Ausgewachsensein mit den ersten Falten und dem ersten lauten Wundern. Wer dann im „Hä“ nicht stecken bleibt, hat den Weg auch erst begonnen.

Was bleibt zu tun und was zu hoffen in der Kürze der Zeit, die uns bekannt ist?

Was auch immer unser Herz begehrt, unsere Wünsche ersehnen und unsere Sehnsüchte erträumen – das Leben geht immer weiter und gewährt all dem keinen Zeitaufschub, keine Bedenkzeit, keine geheimen Zeitfenster zum Abtauchen und Abwarten eines besseren Moments.

Manchmal und sehr oft wirst du begehren ohne Erfüllung, wünschen ohne Erhalt und sehnen ohne Ankommen. Das Greifen und Habenwollen werden dir eine Welt sein, die kein Mehr in Aussicht stellt. Auch das ist Teil des Lebens und will angenommen werden.

Diese schweren oder schwierigeren Tage überstehe ich nur mit Frischluft um die Nase und Spuren auf neuen Wegen, und wenn es nur Trampelpfade im nahegelegenen Wäldchen sind – Hauptsache kein Stillstand in der Schwere der Momentaufnahme.

Und mit Schreiben. Es bewahrt mich vor Selbstauflösung. Schrieb ich schon vor 25 Jahren. Und so bin ich geblieben. Schreibend. Dankend. Die Welt fühlend im Wörterbetasten.

Wir sollten die Gegenwart nicht perforieren, während sie in Echtzeit abläuft. Wir sollten dem Menschen, der sich neben uns stellt, frontal begegnen.

Melancholie und Humor bereichern sich in meinen Tages- und Nachtwelten, zuweilen im Gleichklang. Jene Melancholie trägt den Ozean in mir in sanfter Bewegung durch die Traumsphären. Nur hier komme ich zum Schaffen von Wortbildern.

Ich bade gerne in schöner Sprache, ich zupfe gerne an schönen Erinnerungen und breite meine Lungenflügel aus. Im Leerlauf entfalten sie ihre zerknitterte Membran. Doch wenn inmitten des Erinnerns das Vermissen konkret wird, dann hilft auch keine buddhistische Daseinshaltung gegen den Erinnerungssog.

Alleinsein und offen bleiben für gute Begegnungen – viel komplexer als es scheint. Da entflammen gelegentlich die unmöglichsten Sogkräfte und möchten einen einfach nur vom Boden weg ins Nichts befördern, fernab von und für immer.

Manchmal wünschte ich und hätte ich gerne und würde lieber… bis das Tauziehen sich legt und mein großes kleines Herz wieder Ruhe ausstrahlt bis in die letzte Haarspitze.

Und dann, irgendwann, ist jeder Kampf zu Ende. Jedes Schlachtfeld geräumt. Jeder Kleinzorn geschlichtet. Zurück bleibt, was schon vor dem Erwachsenwerden dein Sein zum Leben erhob. Was in den Kinderschuhen Freude zum Blühen und Wärme zum Überdauern bewegte. Erinnere dich.

Dinge machen, die sich richtig anfühlen, so schwer die Tagesstunden auch manchmal sind. Die Kleinigkeiten dazwischen, scheinbar unbedeutend und wirkungslos, die machen dich großartig auch an Schattentagen. Gelebte Bescheidenheit holt mich dann immer wieder ab vom Rand der menschlichen Traurigkeit in wohlige Herzenswärme.

Und wie schön wäre es, wenn wir mehr Beziehungen mit der gleichen Aus-Dauer und Energie aufbauen könnten, wie die Mauern, Wälle und Wände um verletzte Gefühlskammern. Wie schön wäre es, wenn das Alleinsein und das Nacheinander-Hand-Ausstrecken in die gleiche Balance kämen wie mein Innenweltgedöns.

Und doch – Manchmal reicht atmen und eine Hand auf dem Brustkorb. Dann spüre ich es hell werden in mir und begreife, dass es das immer ist. Dann sehe ich wieder wie Licht durch die Spalten auf den Erdboden fällt, sich im saftigen Moos verfängt und mir alles sein kann.

Ich habe nur eine Handvoll Geschichten, die es sich zu tragen lohnt. Die anderen können im Sand versickern und in anderen Händen von vorne beginnen.

Der Tod möchte genauso beschaut werden wie der Beginn des Lebens und die kurze Zeitspanne dazwischen.

Zwei Dinge möchte ich in diesem Leben hinterlassen: Wurzeln in den Herzen meiner Kinder, und ein gutes Gefühl im Herzgedächtnis aller, die meinen Weg mit Freude kreuzten.

Friedhof in den Kisseln, Berlin Spandau, September 2021

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Matthias

    Wurzeln und ein gutes Gefühl, ist weit mehr, als mancher im hier und jetzt erahnen kann. Und im aufkeimenden Herbst, erstrahlt das Licht des Moments und des wiederkehrenden Frühlings …

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