Mosaikgarten aus Nah und Fern

Aussicht von der Siegessäule, Großer Stern, Berlin, Oktober 2021

Manchmal hallt die Erkenntnis aus Gehörtem noch lange nach, auch dann noch, wenn der Wortlaut schon längst vergessen ist. Manchmal verlieben wir uns in einen Wortlaut, ohne dass uns die Wortbedeutung bis in unsere Herzenssphären reicht. Es sind die Bruchstücke eines Mosaiks und die Draufsicht auf das Gesamtkunstwerk. Mal glitzert sich ein Steinchen vor unserem Auge reizvoll empor ins Bewusstsein, mal ist es die Aura des Ganzen, die vereinnahmt.

Ich liebe es kleine schöne Details im Gespräch mit meinem Gegenüber zu entdecken, ungefragt zu empfangen. Eine kleine Fingerbewegung im Gestikulieren, eine kleine Lachfalte im Mienenspiel, ein aufmerksamer Blick im Moment der Unachtsamkeit. So gerne ich auch im alltäglichen Spaziergang der Weite und dem fernen Horizont folge, so sehr vermisse ich diese Kleinigkeiten in der zwischenmenschlichen Annäherung und Nähe. Subtile Details, die erst dort ihre Schönheit freigeben, wo für die meisten Menschen der Bereich der Distanzlosigkeit beginnt. Da, wo wir die meisten Menschen nicht eintreten lassen. Nicht einfach so.

Was wären wir nur ohne Berührung Gleichgesinnter oder zumindest ohne die Hoffnung auf solche?

Irgendwo las ich vor wenigen Tagen, dass es für jeden, den wir kennen, einen letzten Tag mit uns geben wird. Und im selben Moment schoss mir durch den Kopf, dass ich mich an die letzte Umarmung meines verstorbenen Vaters nicht mehr erinnern kann. Ich erinnere mich lebhaft an einige letzten Male, die letzte Berührung vor einer Trennung, der letzte Kuss, das letzte Auflegen seiner Hand auf meine… Aber seine letzte Berührung habe ich vergessen.

Es gibt so viele letzte Male im Ablauf aller Lebensjahre. Wie bloß sollen wir sie alle in unserem Kopf auf Vergesslichkeit abgesichert abspeichern? Das kleine Detail Berührung auf der Haut und im Geiste, einer entschwundenen Hand, eines zurückgelassenen Wortes. Die Tragik des Abschieds. Der Schmerz des kleinen Vergessens.

Oder ist es auch hier das Gesamtkunstwerk, das das Fehlen der kleinen Details im Großen Ganzen aufwiegt, das uns hilft, das kleine Vergessen zu tragen und Brücken zu schlagen in ein Neues?

Das Verlieren der kleinen Erinnerungen nach einer Trennung wird erst sichtbar, wenn sie verlorengehen. Ich werde nie vergessen, wie mein dreijähriger Sohn nach der Trennung seiner Eltern und dem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung traurig feststellte, dass er anfängt, das alte Zuhause, die gemeinsame Wohnung zu vergessen. Und wie er feststellte, dass er das nicht will, das Vergessen. Und dass er rein gar nichts dagegen machen kann. Mit drei Jahren.

Ein Fremder ist mir über den Weg gelaufen und wusste mit mir nichts anzufangen. Ich fiel in seine Arme. Und eh ich mich versah, wechselten die Jahreszeiten ihre Farben, ihre Gerüche, ihre Klänge und ihre Versprechen. Erinnerst du dich an das Aufwachen in Bussen, die in die falsche Richtung fuhren? An dein Schweigen zwischen Menschen, als innerlich alles nach außen dringen wollte? An Musik in deinen Ohren, die niemanden mehr erreichen konnte? An das allausfüllende Gefühl, einfach nur verkehrt zu sein? Darin warst du dir am ehrlichsten, darin erkannte ich dich.

Wie ein Mensch erst (alles) verlieren muss, um herausfinden zu können, was er will. Wie man dann, wenn das auftaucht, was man will, noch nicht bereit ist für das Gewollte. Und wie dann, wenn das neu aufgetauchte wieder abtaucht, man endlich meint bereit zu sein, für das, was man will und beinah hatte.

Und wie befreiend es sein kann, wenn man sich von einer festgefahrenen Laufrichtung in eigenen Gedankenbahnen löst und beim hundertfünfunddreißigsten Neudenken den Denkkramft plötzlich ertappt, ergreift und sanft dem Denkdruck entzieht. Nicht denken. Machen. Leichtdenkend.

Es muss und kann nicht das perfekte Gesamtkunstwerk Leben sein, mit den tollen Kindern, dem tollen Lebensgefährten und einem erfüllenden Job, der nebenbei noch Zeit und Energie übrig lässt für eine ereignisreiche Freizeitplattform. Es können auch Phasen mit mega nervigen Kinderallüren, aversionserweckenden Chefgebaren und/ oder wackeligen Selbstwahrnehmungsschüben sein. Lebensphasen, die sich in depressiv anmutenden Alltagsgebrechen durch eine ganze Jahreszeit ziehen, ohne einen einzigen Tag des Frohlockens inmitten. Solche Abschnitte im Leben kennt ein jeder, egal ob arm oder reich, besonders clever oder eher leicht geistig umnachtet. Manchmal geht es uns nicht gut und keine Zuspieler können das Blatt wenden. Es hilft nur ein Umdenken der Lage, ein Umpositionieren der Blickrichtung und vor allem die kleinen Handlungen währenddessen.

Nicht aufhören zu werden, auch wenn ein Menschenleben nur ein Wimpernschlag in der Unendlichkeit deiner Seelenwege ist. Während wir in unseren grauen Tunnelgängen oft meinen, dass unser Leben Tag ein, Tag aus in gleichen Bahnen und Abläufen und kaum Änderungen in den einzelnen Verknüpfungen abläuft und so Wochen und Monate vergehen, verändert sich schleichend so unfassbar vieles. Monatelang passiert nichts und plötzlich drehen wir uns um die eigene Achse und sehen Dinge neu. Wir begegnen nach Monaten oder Jahren der Abwesenheit einst bekannten oder uns nahstehenden Menschen und erschaudern ein wenig vor lauter Wahrnehmung der Neuerungen in uns, an uns, um uns herum in der Begegnung. Wir spiegeln uns in der Neubegegnung mit dem Alten. Wir lassen zu, dass unser Gegenüber sich spiegeln kann, ganz so wie er ist. Und all die kleinen Steinchen unseres Lebensmosaiks fallen in diesem Moment in sich und erheben wie Phönix aus der Asche das Gesamtkunstwerk auf das Parkett des Sichtbaren. Und da stehen wir. Stolz und zerbrechlich genug, überdauert zu haben.

Es macht Sinn, sich am Detail aufzuhalten, für seine kleinen Überzeugungen einzustehen – die täglichen Handgriffe, das freundliche Wort, die kurzen Kontaktaufnahmen dazwischen – all dem Energie zu schenken und von all dem neue Energie zu empfangen.

Zwischen Nahsicht und Weitsicht, dem kleinen Detail und dem Gesamtkunstwerk, dazwischen schwirrt das kleine Element des Wohlwollens und gibt Preis, was auch ohne große Liebesbekundungen großartig ist. Zärtlichkeiten sind immer jung beflügelt, in jedem Alter.

Carpe diem und memento mori, während dein Herz einfach nur auf die Tanzfläche will.

Nur – Wohin mit der Herzensglut, wenn sie niemandem gilt und uns doch in Atem halten muss, um nicht im Kalten abzustumpfen?

Nahaufnahme der Siegesgöttin Viktoria auf der Siegessäule, Oktober 2021

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Torsten

    Die schönen Details im Gespräch…

    Einst lief ich mit einer mir fast unbekannten besonderen Frau durch die nächtliche Stadt, philosophierte so vor mich hin und wie ich den Blick ganz zufällig zu ihr richtete, sah ich in ein offenes interessiertes Lächeln! Ein Moment, der sich fest verankert hat…

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