Kindheitstage heute

Langeweile, spielzeugarme Zone und Leerlauf – die kostbarsten Güter der heutigen Kindheitstage auf diesem Breitengrad (Google sagt: Breitengrad von Berlin: 52.520007, Längengrad: 13.404954. Wenn wir übrigens hier und jetzt den Kopf in den Sand stecken würden und uns einmal quer durch die Erdkugel hindurchwurmen könnten, landen wir südöstlich von Neuseeland mitten im Pazifischen Ozean und können Ausschau halten nach diversen Haiarten… aber das ist ein anderes Thema.)

Muße und Zeit zu haben für ungehetzte Alltagsträume, zum Zu-Ende-Puzzeln mit Verschnaufspausen, zum Pokemon-Karten-Sortieren mit genau-Hinschauen, zum Malen mit Wasserfarben inklusive Trocknungsphasen – Ich könnte die Liste der ausgedehnten Kindertaten fern der Dauerbeschallung digitale Medien und co unendlich fortführen. Das sind die beseelten Momente auch des Elterndaseins. Im Idealfall hetzt man selber in solchen Ruhephasen nicht zwischen Haushaltsding und Überweisungsschein hin und her sondern setzt sich fünf Minuten an die Seite des Tiefträumers, atmet hinein in seine Aura und greift ebenfalls nach einem gefundenen Puzzelstück.

In meinem Kopf singt dann AnnenMayKantereit „Ich glaub, das kleine Glück ist groß…“, ertönt Herbert Grönemeyer mit seinem Sprechgesang das „Sekundenglück“ und neuerdings sogar Gisbert zu Knyphausen mit seinem Lied „Niemand“.

Jedoch, der Weg zu diesem Zustand der angenommenen Langeweile ist zuweilen lang und beschwerlich. Es werden im Minutentakt Gemütszustände an einen herangetragen, ob man möchte oder nicht (spätestens nach der zehnten Ansage eher nicht). Und der Gemütszustand aller Kinder passt stets in die Drei-Wort-Phrase ,Mir ist langweilig‘. Es gilt, diesen Zustand auszuhalten, sich mit beiden Füßen in das Laminat unter seinen Füßen zu bohren und den Blick in die Ferne schweifend und doch fokussiert zu halten. Es gilt, die aufgetragene Unruhe der Rastlosen über sich werfen zu lassen und unter ihr nicht zu dehydrieren.

Ich habe während meines Lebejahre-Magisterstudiums drei Jahre in einem Kinderladen gejobbt (Kindergarten ohne eigenen Garten für die Nichtkenner, in dem Fall eine Erdgeschoss-Altbauwohnung in Schöneberg). Jeder Freitag und diverse Ferientage bzw. Semesterferien waren meine, meine und die von 15 liebenswerten Großstadtkindern. Meine schönste Zeit dort waren die drei Wochen der ,Spielzeugfreien Zeit‘. Damals, als noch nicht Mama, bekam ich eine Ahnung von der eigentlichen Bedeutung der Wörter Geduld und Ausdauer. Ich sehe mich noch sehr deutlich auf dem Boden im Hauptraum des Kinderladens sitzen, an die Wand gelehnt, umgeben von zig winselnden kleinen Zwergen und dem Satzgenuschel „Mir ist langweilig!“, „Was sollen wir machen?“. Die Räume waren ,entbuntet‘, ausgemistet, von Plastikballast befreit. Fast zwei Wochen dauerte es, bis auch bei dem letzten Kind der Momentzustand ,Wenig-Input-von-Außen‘ seine beinah magische Wirkung hervorrief. Das Resultat war pure Kreativität, ungelogen. Auf einmal wussten sie mit den verbliebenen Utensilien in den Räumen wie Möbelstücken und Decken ganze Palastbauten zu erbauen. Steine, Stöcke und andere Naturüberbleibsel aus dem nahegelegenen Volkspark wurden zu wertvollen Schätzen, Tauschgütern und Phantasiegebilden. Es war uns ,Erziehern‘ ein Fest, der Entwicklung und dem Durchbruch zuzuschauen.

Kreativität wird erst freigesetzt, wenn Raum zum Ausbreiten zur Verfügung steht, wenn der alltägliche Input aus der Schule und der weiten Außenwelt sich in der Langeweile breit machen und neu sortieren kann. Ich bin jedes Mal ein klein wenig stolz auf mich, wenn ich mit meinen Kindern diesen Zustand erreicht und überwunden habe. (Was nicht heißen soll, liebe Nachmittags-Freundinnen, dass ich die Ruhe in der Küche beim gemeinsamen Kaffee-Genuss und den stillen Kindern vor der Glotze nicht auch zu schätzen weiß ;)).

Und, um nochmal auf Gisbert zu Knyphausen und sein Lied ,Niemand‘ zu schreiben zu kommen: Ich glaube fest daran, dass dieser Zustand hervorragend den Nährboden Urvertrauen mit Licht für die Zeiten danach auftanken kann. Licht für die Zeiten des Erwachsenseins in der schnellebigen Welt von heute. Und wenn wir tief in uns hineinlauschen, dann hören wir vielleicht noch unseren Herzschlag beim stillen Spiel in unserem alten Kinderzimmer oder beim Tierebeobachten auf der grünen Wiese am Stadt-/ Dorfrand, unser Glück im Klein.


Tief in dir
Brennt ein Licht
Das du nicht
Das du nicht zu fassen bekommst
Doch es ist da und scheint
Wohin auch immer du gehst, es scheint
Solange du lebst, es scheint
Und in allem, was du tust, es scheint

Für dich
Für dich, für dich, für dich, für dich

(Ausschnitt aus dem Lied ,Niemand‘)

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Tonia Willumat

    Jaaa…. wenn man diese „Mir ist langweilig „Phase überwunden hat, es geschafft hat nicht nachzugeben und doch den Fernseher einzuschalten um Ruhe zu haben… dann passiert wunderbares… aber vor der „Glotze “ zu parken ist manchmal auch nicht die schlechteste Idee ;))

    1. Joanna

      …auf der Suche nach dem goldenen Mittelmaß. Ich freue mich auf ein nächstes Treffen mit und ohne digitale Hilfen 😉

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