Kinder und Kindeskinder in ihren Welten

Das Schönheitsdetail in der Herzvorkammer – von der Herzumarmung ausgeschlossen, von der abkühlenden Herzensferne nicht zu erfassen. Das ist die Erinnerung an eine versiegelte Liebe, an einen Wimpernschlag Zeit heile Welt, an glückliche Augenblicke, die mit dem Strom der Zeit entkamen, mit dem Lebensfluss davonschwammen.

Meine Grundschulkinder fragen mich auch heute noch, nach fast fünf Jahren der Trennung ihrer Eltern, warum wir uns getrennt haben, warum wir nicht mehr zusammen sind, warum wir uns nicht wieder vertragen (haben), warum. Die Fragen variieren, schmerzen, nicht nur die Kinder. Meine Antworten werden kindgerecht verpackt und doch immer wieder mit erstaunlich reifer Gegenantwort hinterfragt und in sich selber zerlegt. Das Hineinwachsen in eine annehmbare Antwort und (Auf)Klärung kann ich ihnen nicht nehmen, nicht ersparen und auch nicht erleichtern. Ich zügele in solchen Gesprächen meinen inneren Drang mich in den ausgeleuchteten Raum der Unschuldigen hineinzustellen und lobe ihren Mut, solche Fragen überhaupt zu stellen, ihre Gefühle dazu zu äußern, ihre Trauer in Worte zu packen. Der Moment geht vorbei, sie tauchen wieder hinab in ihre leichtere Kinderwelt und ich atme durch, allein.

Meine Kindheit im Alter zwischen vier und acht Jahren, also im Alter meiner Kinder in der Nachtrennungszeit, unterschied sich grundlegend von der Welt, die sie erlebten. Ich verbrachte jene Jahre mit Eltern und meiner älteren Schwester in unserem Fortshaus in einem polnischen Waldgebiet. Noch heute schimpfe ich Großstadtmensch mich gerne Waldkind, obwohl es nur eine Zeitspanne von vier Jahren war. In der Rückschau waren das meine glücklichsten Kinderjahre. Ich badete geradezu in meinem Element – Wald, Tiere, mein Erleben mittendrin. Glücklicherweise boykottierte ich damals den Kindergarten in der 12 km entfernten Kleinstadt, so dass mir mehr Zeit und Stille in den Vormittagsstunden zuhause gegeben waren, um mich in die Waldwelt hineinzufühlen. Natur als pure Lebensenergie, das Betrachten und Spielen mit ihrer Tierwelt als kleinen Akt der Gemeinschaft.

In der Erinnerung an diese aus heutiger Sicht glorifizierten paradiesischen Zustände regt sich manchmal der Schmerz, meinen Kindern ein solches Erleben nicht ermöglicht, in gewisser Weise geradezu verwehrt zu haben. Das schlechte Gefühl des Gewissens kriecht aus seinen Verstecken hervor und zermalmt kurz die Natur-Kopfbilder.

Dann erinnere ich mich an meine Schwester, die mit der nervigen und unberechenbaren Tierwelt auf Kriegsfuß stand und steht, die damals den Vorzügen der „Wildnis vor der Haustür“ kaum etwas abgewinnen konnte und froh war über den nächsten Umzug in die Zivilisation. Es war mein Paradies, nicht ihr. Es wäre vermutlich auch nicht die Erfüllung für mein jüngstes Kind, das vor nicht angeleintem Getier immer noch leicht panisch einen riesigen Bogen schlägt. Es war mein Paradies. Meine Kinder haben und werden andere Welten betreten, die in einem solchen Glanz stehen. Sie werden aus anderen Schutzräumen zehren, wenn sie erwachsen sind.

Meine Kinder sind Kind geblieben, trotz Trennung. Sie nehmen sich die Welt oft, wie sie sie brauchen, um sich von unseren Erwachsenenlasten freizudrehen. Sie lieben beide Eltern und werden von beiden geliebt, so sehr es ihren Eltern nur möglich ist mit ihren oft so schweren Köpfen und aufgesetzten Scheuklappen der Vernunft und Sorge.

Während ich oft in kopflastigen Zeiten von trüben, reißenden Gewässern und Müllbergen in Ozeanen träume, erzählt mir meine Tochter von ihren traumhaften Nachtbildern. Darin besitzt sie die Fähigkeit aus dem Kinderzimmer hinauf in den Himmel zu fliegen. Oder sie lebt in weiten Seen und kann unter Wasser atmen wie ein Fisch, trotz ihres Menschenkörpers: „Mama, ich konnte im Traum fliegen wohin ich wollte! Ich konnte unter Wasser atmen. Ich habe es einfach ausprobiert und es ging!“ Sie erlebt eine Dimension, die uns Großen oft verborgen, verschüttet, verschleiert ist. Wir grübeln, werden wirr, taumeln, schlafen in der Bewusstlosigkeit. Und vergessen, wer in unserem Leben am wichtigsten ist, nämlich wir selber, die Beziehung zu uns, die Liebe, die wir für uns empfinden, nach der wir leben und aus welcher heraus wir andere lieben. Und diese Selbstliebe beinhaltet den Glaubenssatz, dass wir die Liebe verdienen, die wir ersehnen. Nach ihr zu greifen und sie zu verlangen, damit können wir jederzeit beginnen, ohne Vorarbeit, ohne schlechtes Gewissen oder Zweifel.

Wir akzeptieren die Liebe, die wir zu verdienen glauben. Also glaube daran, dass du es verdienst aus der Mitte deines Herzens geliebt zu werden. So wie du geworden bist.

„Meiner Ansicht nach gleicht keine Erfahrung, die ich heute mache … den Erfahrungen aus meiner Kindheit. … Die Natur entwickelte sich, so wie ich mich entwickelt habe, und wuchs mit mir heran. … Ich weiß noch, dass ich als Kind – bevor ich all meine Sinne verlor – ganz und gar lebendig war. … Diese Erde war das herrlichste Musikinstrument und ich war Zeuge ihrer Musik. … Morgen und Abend erlebte ich als etwas Wunderbares und ich führte ein Leben weitab von der menschlichen Gemeinschaft.

In der Wildnis liegt die Erhaltung der Welt.“ Henry Thoreau

Zitat aus: Langton, Jane: Georgie, Freundin der Wildgänse. München, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1980

Dieser Beitrag hat 4 Kommentare

  1. Matthias

    Und mit Ihren wachen Blick kämpfen sie durch das Dickicht der Lebendigkeit und des Lebens.

    Tragen das Geerbte, dieses Gefühlte der Altvorderen in Ihr neues Leben mit hinein.

    Sie erleben eben diesen Blick ihrer Eltern. Er ist Ausgangspunkt von Sichten und Entwicklungen.

    Des springenden Geistes.

    Wir unterscheiden uns von unseren Eltern und erkennen doch manch mit auf den Weg gegebenen Staffelstab. Es ist an uns diesen zu tragen, nur ein Stück.

    Wir sind Kinder unserer Zeit und unseres Raumes.

    Wir sind Concierge für den Raum und die Zeit unserer Kinder.

    Wir öffnen Türen, weisen den Weg, erklären das Unbekannte / Unverstandene und hin und wieder, wird ein unbekannter Gang erleuchtet.

    Sie bringen uns an den Rand des Erklärbaren, auf Fragen die wir selbst nicht oder nur schwerlich beantworten können und entwaffnen uns mit Ihrer Intelligenz.

    Sie sind stets eine Freude, ausgehend von unserer Kindheit, unserem begonnenen Weg, gehen sie nun ihren Eigenen hin und wieder gekreuzt mit unserem.

    1. Joanna

      Danke für deine Gedanken hierzu… und entschuldige die späte Freigabe, habe mir eine kurze „Blogauszeit“ gegeben 😉

  2. Tonia Willumat

    Danke für diese nachdenklich machenden Zeilen. Ich fühle mich doch auch angesprochen 😉 und du hast so Recht!
    Passendes Bild übrigens…

    1. Joanna

      Freut mich, dass du mal wieder hier gerne einen Augenblick „hängengeblieben“ bist, und das auch mit deinem glasklaren Fotografenauge – Merci!

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