„Ich tobte in der Schlaflosigkeit und sehnte mich nach Normalität, nach Mittelmaß, nach Schwarz-Weiß-Grau. Jede Abstufung der Gelbtöne tränkte sich im Nebel der wachen Müdigkeit, ermattet und im glasklaren Bewusstsein um die Ausweglosigkeit. Es gilt, sich selber auszuhalten, bis die Morgendämmerung einen vom gefürchteten Wahnsinn erlöst. Im Übergang ins Tageslicht streife ich den Schleier des Gewöhnlichen über meine vom Mondschein erglühten Krater auf der Stirn. Wie Kains Zeichen erheben und untergraben sie sich gleichzeitig.
Ich bin eine Nachtgestalt, die den Sonnenstrahlen bis in die Unendlichkeit verfallen ist. Ich kann ihrem Licht nicht widerstehen.“
Ein Fluch und ein Segen, der Wenigschlaf der mental Nachts-über-den-highway-Fahrer, der nüchternen Wenigschläfer. Ich genieße ab 22Uhr, wenn nicht gerade ein lieber Mensch mir auch zu so später Stunde Gesellschaft leistet, meine kreativsten Stunden. Manchmal nur kreativ im Freiraumschaufeln in dem mit Gedanken übervollen Kopf. Auch das muss gepflegt und gehegt werden. Dann gehen mir Visionen, Wünsche, Tageswahrnehmungen durch den Kopf.
Vor kurzem nahm ich an der Beerdigung der Oma meines besten Freundes teil. Es war eine kleine stille Abschiedszeremonie, keine Nervenzusammenbrüche, keine tobende Verzweiflung. Wir nahmen Abschied von einer alten Frau, die viele glückliche Jahre mit Familie, Kindern, Enkelkindern, ja sogar Urenkeln hatte. Ich kannte sie kaum, zumindest nicht mehr in ihrem langen Kranksein vor dem Tod. Eine Frau, eine Ehefrau, eine Mama, eine Oma, Uroma, Schwester, Tochter…ein Kind.
Zwei Feststellungen des begleitenden Priesters blieben seit der Trauerfeier in der Kapelle am Montag in mir haften und schwingen noch heute nach. Sie war ein Kind, ein Kind Gottes, ein Kind einer Mutter. Im Angesicht des Todes sind wir alle wieder Kinder, rein, unschuldig, offen, frei von Furcht, ohne Maske und fern der vielen Persönlichkeiten, die wir auflegen und durchstreifen im Laufe eines (langen) Lebens.
Der Priester sprach auch von Liebe. Er sagte mit einem undefinierten Lächeln auf seinem Gesicht inmitten der Abschiedsphrasen: Liebe jetzt, vergebe heute. Wie oft habe ich das schon in ähnlicher Kurzform gehört oder gedacht?! Und doch, wenn ein noch lebender Mensch diese Worte direkt neben einem großen, majestätisch wirkenden Sarg mit einem toten Menschen darin ausspricht, dann hallt es nach, dann bleibt es kleben, dann ist es ein Gesetz Gottes.
Die Sonne warf ihre unermüdlichen Strahlen durch die trüben Kapellenfester auf die absplitternde Lackfarbe der Innenwände. Kunstblumen und Kunstlicht vermischten sich mit der frisch gesteckten Blumenpracht in Altrosa und Gelb und dem Sonnenlicht zu einem harmonischen Ganzen. Tränen rollten über die Gesichter. Ein jeder nahm wieder Abschied von denen, die schon länger nicht mehr sind und von denen, die vielleicht noch vor uns gehen werden. Das Hinaustragen des Sarges wirkt ein jedes Mal surreal und verschiebt die Realitätswahrnehmung ein Stück in das unbekannte Jenseits, das in diesem Moment die einzige Wahrheit ist, die wir kennen.
Ich bin froh über die Zeit des Nichtschlafes und des Sehens zur späten Stunde.
Liebe jetzt, vergebe heute, sei das Kind, das in dir schlummert und dein eigen ist.