Die Ge-Zeiten des Lebens im Blick

Eine charakteristische Eigenschaft des Lebens ist, dass es immer weiter geht, ob gesund, krank oder dem Sterben ergeben. Das Leben geht immer weiter und lehrt uns das Loslassen, bis nichts mehr gehalten werden kann.

Manche Geschichten muss man sich ein paar Mal erzählen und sie einige Male von anderen erzählt bekommen, bis sie sich in ihrem Kern freifächern zum Be-Greifen. So erzählen wir uns immer wieder unser vergangenes Leben und durchlebte Ereignisse und bewegende Momente so oft so sehr lebendig in unserem Inneren, bis sie uns schließlich beinah leibhaftig begleiten und an unseren Alltagsfersen haften. Sie schreiten wie ungebetene Weggefährten an unserer Seite und machen sich durch ihre treue Anwesenheit liebenswert, auch in ihrem Ausdruck des Versagens, Vergessens, Verpassthabens. Wir lernen das Fantasieren einer nie dagewesenen Vergangenheit in eine nie kommende Zukunft als trostspendende Momentaufnahme in das Grau mancher Tage zu integrieren.

Wenn wir träumen, sehen wir oft klarer als an einem klaren Sommersonnentag. Wir kreisen in Vergangenheit und Zukunft um den einen Augenblick, der uns in allem vereint und Gegenwärtigkeit walten lässt. Wir rennen mit der Zeit um die Wette, bis uns das Glück packt und in einer Sekunde unsere Ewigkeit meißelt, uns Klarheit vor die Linse zaubert, uns mit der Energie aller verbindet, in uns schockverliebt und wieder fallen lässt, vom Leben geküsst. Wir rannten mit der Zeit um die Wette.

Ich hörte einen vertrauten fast Fremden in einer Unterhaltung sagen: „Ich habe lange im Hätte gelebt“. Was wäre, wenn es so geworden wäre, wie hätte es sich entwickelt, was hätte aus uns werden können, aus mir, aus uns, aus dem Leben, in dem wir saßen, in dem er verweilte? Trotz aller beinah zum Greifen naher Visionen, die vergangenen Wegen entspringen und sich in die Traumgegenwart flechten und Lebensfunken sprießen lassen, trotz all ihrer Lebendigkeit – es bleibt Vergangenheit, die uns nicht mehr bedarf. Und doch lebt sie in uns und hält Ausschau nach uns, wie ein treues Haustier, ein Welpe, der nach unserer Aufmerksamkeit schmachtet.

Mitten in der Pandemie beginnt die Zeit nach der Pandemie. Unter dem (Un-)Wort des Jahres Inzidenz leuchtet in Neongrün jeden Morgen eine neue, willkommene, fast schon verschwindend kleine Zahl auf und weitet die Klappläden unsrer eingedunkelten Seelen. Der Frühling, der sich durch einen kühlen Mai ins Sommerhoch schoss, lockt die müden Geister aus der Enge ihrer Quadratmeter. Und mitten im Gewöhnlichen vieler Alltagsbegegnungen huschen mir ein paar Blickkontakte und Wortwechsel, die sich ins Schöne und Wahre ausdehnen. Ich bin fremden und weniger bekannten und lang und sehr lang nicht mehr gesehenen Freundschaften begegnet, die diese Pandemiezeit herausforderte im Nachdenken, Fühlen und Hinausschauen. Es wurden Energien freigesetzt, die sie alle jetzt nicht ungenutzt vorbeifliegen lassen möchten. Es wurde Raum in ihnen frei, der Veränderung möglich macht auf eine neue, spannende Weise. Und diese Zeit der Veränderung will keiner von ihnen passiv an sich vorbeihuschen lassen sondern mitgestalten. Der Blick nach Vorne aus der Umwälzung einer entrückten Zeit lauscht der Möglichkeiten.

In einer der letzten Fachtagungen, die ich digital als „technischer Support“ begleitete, fiel der Satz: Wenn man immer nur im Aktivmodus unterwegs ist, hat man keinen Raum in sich. Sie sprachen von Selbstsorge, Selbstfürsorge. Das ist ein kompliziertes Thema im Leben manch einer (alleinerziehenden) (Mehrfach-)Mama. Und doch ist es auch bloß eine organisatorische Herausforderung, der frau mit den Jahren gerecht wird. Der Begriff Schadensbegrenzung wird weniger lieblos gedacht mitten im Managen und Leiten, wenn man sich als „Führungskraft“ zwischendurch an die Grenze stellt und das Gesamtgerüst betrachtet. So ist es eben, anders oder besser geht es im Jetzt nicht. Und es ist auch gut so.

Und was sagt mir der Blick nach Vorne und die Erfahrung aus Gestern? Sie sagen: Wenn du immer nur für deine Kinder im Funktionsmodus unterwegs bist, hast du keinen Raum in dir, der Energien zum Schwingen bringen kann, sie aufnimmt und hinaussendet und manchmal in Resonanz bringt, ins Schwingen.

Ich meine die größte Herausforderung in unserem Leben ist die tägliche Balance zwischen der Rückschau und der Vorschau, zwischen dem Sich-Erinnern und dem in eine ungewisse Zukunft gerichteten Blick. Gegenwärtigkeit ist das höchste Gut.

Ich finde immer noch Namen in meinen Erinnerungen abhängen und auf mein Aufgreifen warten. Sie nehmen Platz ein. Das machts aber nichts. Sie werden sich auch ohne mein Erscheinen in ihren Welten zu berauschen wissen. Die Zeit wird sie wieder in die Zeitmühle senden. Real sind mein Hier und Jetzt und all die Menschen, die mich umgeben, die ich umgebe, weil wir uns gegenseitig guttun.

Wenn ich dich am Abgrund deiner Gedanken sehe, erinnert es mich. Es spiegelt mich wie Dalis Narzissten in den bunten Gemäldepfützen.
Wenn ich deinen Schmerz spüre, zieht mir die Vergangenheit alle Wunschgedanken vom Tisch. Ich nehme Anteil. Ich bin ein Teil von dir und habe mich nicht kommen sehen. Wie ich mich drehe und wende in meiner Mitte, ich lenke es nicht. Mein Platz ist an der Grenze, wo ich beides überblicke, unser zerlegtes Damals und die goldene Zukunft, an die du glaubst.
Der Weg hat keine Richtung und doch setzten wir die Füße voran.
Schließ deine Augen und lass los. Es fallen Steine vom Herzen. Sie pflastern den Weg für jedermann und machen uns im Dasein gewöhnlich.
Als Niemand kommst du und als niemand wirst du entschwinden. Dazwischen erhebt dich nur das Anteilnehmen im Loslassen.

Das Leben lehrt mich das Loslassen und das Balancieren mit dem Gestern und dem Morgen auf den Schultern. Vielleicht deshalb scheint mir das der geeignetste Körperplatz für Hautmalereien, für filigranes Wunschgekritzel.

Und nein, ich brauche keine Therapie. Meer reicht… 😉

Sonntagsausflug am Falkenhagener See, Mai 2021

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Matthias

    Und mit jeder frei gewordenen Energie, nach einem längeren Innehalten in der Selbstfürsorge, schwingt die angestimmte Saite und erfüllt mit wärmenden Wogen den Resonanzboden der Zufriedenheit und des Glücklich sein.

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