Der Sprung ins kalte Wasser

Ich liebe dieses Foto! Der Löwe, geboren am ersten Tag des Sternzeichens Löwe, einst wasserscheu wie eine wilde Katze aus schattigen Wüstengebieten, im Freiflug.

Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an die etwas anstrengenden Schwimmbadgänge mit ihm in seinen ersten Lebensjahren. Viele Eltern werden das kennen und jetzt die Augen verdrehen – man möchte dem Kind eine schöne Überraschung machen und sucht ein tolles Freizeitbad auf voller Vorfreude auf die gemeinsamen Spaßstunden. Und dann hängt das Kind einem wie ein kleiner Parasit um den Hals und drückt die letzte Atemluft platt beim Versuch, tieferes Schwimmbadgewässer zu betreten. Na gut, dann eben das Babybecken (welches es auch 30 km näher für ein Drittel des Eintrittspreises gegeben hätte). Und na gut, dann eben beim nächsten Anlauf mit gedämpfter Vorfreude ins Schwimmbad. Zum Glück habe ich zwei weitere, ältere Kinder, denen ich auch gerecht werden wollte. Und so musste sich der Löwe wohl oder übel der Mehrheit fügen und sich schneller (mit und ohne meinen Hals als Lebensanker) in die trüben Gewässer hineinwagen als ihm lieb war. Eine sehr gute Schulung für den geborenen Einzelgänger.

Das Foto entstand im Sommer 2019 in Bonn beim Familienbesuch. Ich war in Begleitung von drei, vier oder fünf Kindern (meistens weiß ich das nicht ganz genau). Der Löwe knabberte schon seit dem frühen Morgen an seinem letzten Misserfolg – beim Ferienbesuch zuvor bei seinem Vater traute er sich nicht das erste Mal vom Dreier zu springen. Ich war erst schwer entsetzt, dass er es überhaupt versuchte, da ich ihn nicht einmal vom Einer springen sah. Ich selber war für den Sprung ins tiefe Wasser noch nicht bereit, für seinen Sprung wohlbemerkt, ich fürchte das Springen immer noch. Nach einigen Minuten des Hin-und-Her-Tretens am Beckenrand und der Vollkonzentration zwischen den Augen trat er als Erster und Jüngster von den drei (vier oder fünf) Kindern auf den Dreier und sprang! Mein knapp 7-jähriger Eigenbrötler. Mutig, furchtlos und entschlossen.

Wie gerne wäre ich manchmal der Löwe, der ummantelt in fester Kontur eine große Herausforderung mit Frontalblick annimmt und in absoluter Gegenwärtigkeit meistert. Wie gern würden wir furchtlos und tapfer vor unsere größten Ängste treten und durch sie hindurchlaufen ohne einen Anflug des Zögerns oder Zweifelns. Und wie oft schaffen wir es nicht, resignieren und versagen vor unserem eigenen Spiegelbild.

Wenn ich nun aber ein zweites und drittes Mal auf dieses Foto schaue, dann erinnere ich mich an mehr als an diesen grandiosen Erfolg. Ich weiß auch um den Kampf, die Zweifel und die Fehlversuche, die den Weg hin zum großen Absprung pflasterten. Ich weiß auch um den Zuspruch und das an ihn bzw. an sich glauben, was Zeit und Energie abverlangte.  Aus der Rückschau erfasse ich, dass jeder Misserfolg auf dem Weg dahin nicht ein Rückschritt sondern bloß ein weiterer Anlauf auf das Ziel zu war. Aus der Rückschau mussten es genauso viele Fehlschläge, Fehltritte und Leerläufe sein, keiner mehr und keiner weniger. Im Sprung schloss sich der Kreis. Ein Kampf war gewonnen. Ein neuer stand bereits in den Kinderschuhen, bereit zum holprigen Laufen auf den Krümmungen unserer Straßen.

„Man kann das Leben nur rückwärts verstehen, aber leben muss man es vorwärts.“ (Søren Kierkegaard)

Und sollte heute kein Tag sein, um den großen Sprung zu wagen, so soll es ein Tag werden, an welchem wir unsere nächste kleine oder große Herausforderung ins geistige Auge fassen und zwischen den Zeilen durchatmen. Bis wir bereit sind.

mit angebrochenem Herzen dem Fernweh lauschend.
mit abgelaufenen Schuhen neue Pfade betretend.
Freigeist auf Wanderschaft zwischen den Zeilen.

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