Man braucht schon einen ordentlichen Knall, um hier auf Erden nur mit Streifkratzern und leicht verschobener Mimiksetzung durchzukommen. Man braucht schon sehr viel Welt dazwischen, zwischen Alltag und zu kurzen Tiefschlafphasen, zwischen Smalltalk und Dienstsitzungen, zwischen Hausaufgabenabfragen und mit dem (Ex)-Partner Termine terminieren. Manch einer findet das Luftholen im Dazwischen im Konsum greifbarer Dinge, in der Beihilfe zur Verschönerung der Seelenhülle, im disziplinierten Ausbau der körperlichen Funktionstüchtigkeit. Es ist gut, dass diese Hilfen vielen Brücken sein können in den Zwischenwelten. Und noch besser finde ich, dass meine Hängebrücken so verdammt preiswert sind.
Hängebrücken im Alltag
Meine aufgebauschten Lichtblicke fungieren zuweilen wie Strohhalme, die mir unter der Alltagswelle portioniert Sauerstoff zufügen. Und an manchen Tagen ist es nicht das Wasser, das mir bis zur Stirn steht, sondern der Treibsand, der an meinen Füßen kitzelt und in den Abgrund lockt. Mein Hang zur visuellen Übertreibung rettet in solchen schwerfälligen Situationen den Gemütszustand mit Bilderfassung. Dann ist auch das kleinste Schönheitsdetail nicht gewappnet vor meiner Billig-Smartphone-Linse. Die dunkle Pfütze wird zur Spiegelung der sich stets im Wandel befindenden Unendlichkeit der Himmelsbilder, die Pusteblume wird zum Abbild vollkommener Naturschönheit, die Handschwingung meiner Tochter zur grazilsten Bewegung des heutigen Universums. Dann schiebe ich aber auch gerne den Staub- und Wäscheberg für eine anregende Freunde-Unterhaltung zur Seite. Und wenn die schillernden Alltagsdetails in der Fotografie und das Freunde-Gespräch zur Befreiung nicht ausreichen, bleibt mir stets die Sprache, das gedruckte, meist deutsche Wort in seiner Aneinanderreihung irgendwo in den Zwischenräumen der Musik, der Lyrik oder Prosa.
Hilde Domin und Ihre Blaulicht-Lyrik
Dann denke ich gerne an eine der großen und ,späten‘ Dichterinnen Hilde Domin. Sie entdeckte die heilsame Wirkung der Dichtkunst erst nach ihrem Lebenszenit in ihren 40er Jahren. In einem Interview sagte Sie: „…Wenn der Mensch sehr bedrückt ist, kann ihm Lyrik helfen. Lyrik ist eine größere Entlastung als etwa Prosa. Lyrik kommt mit Blaulicht. Lyrik entsteht mehr aus Leid als aus Freude. Der Mensch kann sich durch das Schreiben von Gedichten befreien…“ *
Sie wird überdauern und einer ihrer berühmtesten Verse wird mir immer ein Lebens-Mantra bleiben: „Nicht müde werden sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten.“
Ein Selbstversuch zum Überdauern
Ich bin frei in einer Welt, die für mich unendlich ist, eine Welt dazwischen, zwischen den Zeilen, zwischen den Buchstaben, zwischen den Menschen, den Gefühlen, den Lebenswegen. Entscheidungen werden außerhalb getroffen, Zusagen ohne Absprache zugesprochen, der Bund der Loyalität ohne Vorlauf geschlossen. In der Zwischenwelt throne ich in meiner Mitte, im Kreis meines Vertrauens. Wenn du mir nichts geben kannst, bekomme ich alles. Wenn ich dir nichts sein kann, bin ich alles für dich. Wenn die Zeit abgelaufen ist, bin ich reif genug dafür. Deine Pusteblume ist mir die schönste, dein Traum vom Fliegen mir zum Greifen nah. Und meine Erinnerung an dich glänzt im Regenschauer über unseren verdrehten Köpfen. Den Kopf in den Wolken, den Treibsand an den Schuhsohlen, throne ich in meiner Mitte. Die Zeitfresser können kommen. Wir sind geübt im Überdauern.
*Hilde Domin in einem Interview mit Gert Eisenbürger in Heidelberg, 1994, im Alter von 85 Jahren