„Und dann kam die Zeit nach dem Tod. Dann kam die Stunde nach der Stunde Null. Dann ging es dort weiter, wo geschrieben stand, dass es niemals wieder weiter gehen könne, dort, nach der Stunde Null. Und es ging weiter. Und es geht weiter. Mit welchem Recht und aus welchem Anlass heraus und durch wessen Verschulden auch immer – der Sand floss weiter durch die winzige Öffnung Zeit, auch dann schon, als der Tod ihr Einhalt gebot, als die Gezeiten im Vakuum implodierten und ein schwarzes Loch die Sekunden verschwinden ließ, auch dann schon rann das Sandkorn der Erdanziehung entgegen.
Wie ein Buddha sitze ich hier über meinem Mandala aus Sand und kreiere seine Vollkommenheit mit bunten Sandkörnern in höchster Präzision, im klarsten Wissen darüber, dass das Kunstwerk im Moment der Vollendung seine Anwesenheit verlieren wird. Ein einziger leichter Windhauch wird die Grazie seiner Schönheit ins Universum zerschlagen, sie in den Lauf der Zeit untermischen und uns sein Wesen auf Erden entziehen. Wie ein Buddha sitze ich hier und forme Lebenszeichen in mein kleines Universum vor der Stunde Null.“
Diese Zeilen schrieb ich nach einer länger währenden Schreibpause nach dem Tod meines Vaters. Er starb mit 69 Jahren an Demenz. Wir hatten viele Jahre des Abschieds. Zurück geblieben ist das Gefühl, dass die Jahre nicht sinnvoll genug gefüllt, genutzt, ausgenutzt wurden. Es hätte mehr, so viel mehr sein können, mehr an gemeinsamer Zeit, mehr an Gesprächen. So viele Worte, Gedanken und Gefühle, die ungesagt blieben. Die Sprache hat uns nicht so nah gebracht, wie ich es mir insgeheim immer gewünscht habe… sagt mir die Ratio gerne immer wieder.
Glücklicherweise entdecke ich immer mehr auch etwas anderes, was uns verband und über den Tod hinaus trägt, etwas Kleines von unmessbarer Größe – die Tiefe. Auf Twitter las ich gestern einen Satz, der mir das in schlichter Einfachheit wieder in die Seele spiegelte: „Nicht die Zeit, die Tiefe ist es.“ Und da strömte es wieder durch mich, das Gefühl der tiefen Verbundenheit mit meinem Vater – die Tiefe der Umarmung aus Kindertagen, sein tief in die verborgensten Kopfwindungen eingeschriebener Geruch, der in die höchsten Tiefen hinaufreichende Abschied am Strebebett wenige Stunden vor seiner Stunde Null.
Nicht die messbare Zeit, die Tiefe der kostbaren Begegnungen in ihr macht eine Beziehung so wertvoll und einzig-artig unter vielen.